Sind Zertifizierungen überbewertet? Was einen guten Projektmanager wirklich ausmacht
- Frederick King

- 6. Aug.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Aug.
Ein Titel ist kein Talent
Zertifizierte Projektmanager sind gefragt. Ob in Stellenausschreibungen, Bewerbungsgesprächen oder Projekt-Pitches: Ein PMP, IPMA Level B oder PRINCE2 Practitioner wirkt wie ein Ritterschlag. Wer zertifiziert ist, gilt als kompetent.
Doch ist das wirklich so? Sind Projektmanager mit Zertifikat besser als solche ohne? Oder suggerieren diese Titel nur eine Sicherheit, die es in der Praxis nicht gibt?
Ein Projektbeispiel, dass ich erlebt habe: Während ich ein Restrukturierungsprogramm leitete, sollte ein Mitarbeiter die Projektleitung für eine Handvoll Maßnahmen übernehmen. Immerhin hatte er gerade eine IPMA-Level C-Zertifizierung durchlaufen.
Noch in der Vorbereitungsphase gab mir der Mitarbeiter aber in einem vertraulichen Gespräch zu verstehen, dass er keine Ahnung hat, wie er die Maßnahmen starten oder geschweige umsetzen sollte. Daraufhin schrieb ich mein erstes Buch: "Projekte in 9 Schritten vorbereiten", um Projektmanager eine praktische Hilfe an die Hand zu geben. Der Link führt zu meinem Buch auf Amazon.
In diesem Artikel wiederum zeige ich, warum Zertifizierungen oft überschätzt werden, worauf es im echten Projektalltag wirklich ankommt und wie du als Projektmanager – auch ohne Zertifikat – überzeugen kannst.
Was Zertifizierungen leisten (und was nicht)
Projektmanagement-Zertifikate haben in vielen Unternehmen einen festen Platz – und das nicht ohne Grund. Sie dienen als objektiv messbarer Nachweis, dass sich jemand mit einem strukturierten Rahmenwerk (Framework), standardisierten Prozessen und anerkannten Begrifflichkeiten des Projektmanagements auseinandergesetzt hat.
Was sie tatsächlich leisten:
Begriffs- und Methodenstandardisierung: Zertifizierte Projektmanager sprechen dieselbe Sprache. Das erleichtert die Zusammenarbeit – besonders in internationalen oder bereichsübergreifenden Projekten.
Einstiegserleichterung: Für Berufseinsteiger oder Quereinsteiger bieten Zertifikate einen nachvollziehbaren (aber begrenzten) Kompetenznachweis.
Formale Voraussetzung: In Konzernen, im öffentlichen Dienst oder bei Ausschreibungen sind sie oft Pflicht. (Ein Grund, warum auch ich über einige Zertifikate verfüge).
Signalwirkung: Eine Zertifizierung zeigt Einsatzbereitschaft, Lernwillen und ein grundsätzliches Verständnis für methodisches Arbeiten.
Was sie nicht leisten:
Anwendung in der Praxis: Die Transferleistung vom Lehrbuch in den chaotischen Projektalltag fehlt in der Prüfung. Wirkliche Methodenkompetenz zeigt sich aber erst unter realen Bedingungen.
Bewertung von Soft Skills: Zertifikate können keine Kommunikation, Konfliktfähigkeit oder Teamführung abbilden.
Kontextverständnis: Jedes Projekt ist einzigartig. Die Fähigkeit, situativ passende Methoden zu wählen und anzupassen, wird in keiner Zertifizierung gelehrt. Oftmals wird nur ein Blumenstrauß vorgestellt, aus dem der Projektmanager dann wählen darf (bzw. muss).
Zertifikate sind wie ein Kompass: hilfreich zur Orientierung – aber sie ersetzen kein Urteilsvermögen, keine Intuition, keine praktische Erfahrung und keine Führungserfahrung. Wer sie überschätzt, vernachlässigt die entscheidenden Erfolgsfaktoren im Projektgeschäft.
Projektmanagement-Zertifikate sollen sicherstellen, dass ein Mitarbeitender mit den grundlegenden Methoden, Begriffen und Prozessen vertraut ist. Das ist sinnvoll – vor allem in regulierten Branchen oder großen Unternehmen mit standardisierten Vorgehensmodellen. Wobei diese Methoden dann auch oft an die jeweiligen Unternehmen und Branchen angepasst und sowieso neu gelernt werden müssen.
Ein Zertifikat belegt nur, dass jemand ein bestimmtes Wissen gelernt und in einer Prüfung abgerufen hat. Es sagt nichts über die Fähigkeit aus, dieses Wissen im echten Projektalltag anzuwenden. Und schon gar nichts über die Soft Skills, der betreffenden Person.
Warum viele zertifizierte Projektmanager trotzdem scheitern
Überspitzt gesagt, zeigt ein Zertifikat, dass jemand in einer Schulung sitzen und/ oder für eine Prüfung lernen konnte. Ein Zertifikat zeigt nicht, dass er Projekte erfolgreich umsetzen kann. Und genau hier liegt das Problem: Die Anforderungen des Projektalltags sind nicht prüfbar, weil sie dynamisch, emotional und kontextabhängig sind.
1. Komplexität lässt sich nicht normieren
Standardmodelle vermitteln den Eindruck, Projekte seien planbar. Doch Projekte leben von Unsicherheiten: Interessenskonflikte der Stakeholder, persönliche und politische Agenden, kulturelle Unterschiede, widersprüchliche Erwartungen. Wer rein methodisch vorgeht, ohne sich auf die Situation einzulassen, stößt an seine Grenzen. Oder wie ich es bei der Bundeswehr damals gelernt habe: Kein Plan übersteht den ersten Feindkontakt.
2. Soft Skills fehlen im Methodenkatalog
Entscheidend sind oft nicht Pläne, sondern Beziehungen. Die Fähigkeit, Vertrauen zu schaffen, Spannungen früh zu erkennen und Menschen durch Veränderungen zu führen, entscheidet über den Erfolg – nicht das Beherrschen eines Frameworks.
3. Zertifikate ersetzen keine Beurteilung
Führungskräfte verlassen sich zu oft auf Zertifizierungen als Auswahlkriterium. Dabei sagen sie nichts über Haltung, Anpassungsfähigkeit oder Führungsstil aus. Ein theoretisch zertifizierter Projektmanager kann in der Realität konfliktscheu, kommunikationsschwach oder entscheidungsunfähig sein. Aus der Praxis kann ich sagen, dass dies aber nicht nur Projektmanager, sondern auch Führungskräfte betrifft (Mehr dazu in meinem Blog-Artikel).
4. Kontext schlägt Lehrbuch
Jedes Projekt bringt eigene politische, wirtschaftliche und menschliche Rahmenbedingungen, Dynamiken und Veränderungen mit. Der „richtige“ Weg ist oft nicht der methodisch sauberste, sondern der praktikabelste Weg. Wer sich starr an Vorgaben klammert, verliert den Blick für pragmatische Lösungen. Oftmals muss man daher in einer Grauzone arbeiten, in die sich aber nur wenige Projektmanager vorwagen.
5. Verantwortung wird mit Methode verwechselt
Viele scheitern nicht an fehlender Methodik, sondern an mangelnder Initiative: schwierige Entscheidungen werden nicht getroffen, Probleme nicht angesprochen, Verantwortung nicht übernommen. Das kann kein Zertifikat abprüfen – das zeigt sich nur in der Praxis. Verantwortungs- und Entscheidungsfreude sind daher zwei zentrale Kompetenzen für Projektmanager.
Was einen exzellenten Projektmanager wirklich ausmacht
1. Strategisches Denken & Business-Orientierung
Fallbeispiel: In einem Digitalisierungsprojekt für den Vertrieb erkennt der Projektmanager früh, dass die Einführung neuer CRM-Software nicht nur ein technisches, sondern vor allem ein kulturelles Thema ist. Statt ein rein IT-getriebenes Rollout-Modell zu verfolgen, bindet er regionale Vertriebsleiter aktiv in die Entscheidungsprozesse ein. Durch gezielte Pilotprojekte mit einer stufenweisen Einführung kann er Ängste abbauen, Akzeptanz schaffen und die strategischen Unternehmensziele besser verankern.
Warum relevant: Strategisches Handeln verbindet Projektziele mit Unternehmensinteressen, vermeidet Silos und fördert einen langfristigen Nutzen statt kurzfristiger Geschwindigkeit.
2. Methodenkompetenz und situative Anpassung
Fallbeispiel: In einem interdisziplinären Produktentwicklungsprojekt stellt der Projektmanager fest, dass die Teams unterschiedliche Reifegrade in Projektmanagement-Methoden haben. Statt Scrum zu erzwingen, kombiniert er bewährte Wasserfall-Elemente für Planung und Reporting mit Kanban-Boards zur operativen Steuerung der Entwicklung. Das hybride Setup ermöglicht flexible Anpassung, schafft Klarheit und reduziert Widerstände im Team.
Warum entscheidend: Das Verständnis unterschiedlicher Ansätze (Scrum, Kanban, Lean, klassisches Wasserfallmodell, etc.) ermöglicht die gezielte Auswahl statt Dogmatismus – und passt Methoden an den Projektkontext, die Branche und das Unternehmen an.
3. Entscheidungs- und Verantwortungsfreude
Fallbeispiel: Das Budget droht überschritten zu werden. Der Projektmanager eskaliert rechtzeitig zum Lenkungsausschuss – statt darauf zu warten, „bis es zu spät ist“. Der Projektmanager zeigt Initiative und Verantwortung, um eine Entscheidung herbeizuführen, die seine eigene Entscheidungskompetenz übersteigt.
Warum entscheidend: Projektmanager führen oft ohne disziplinarische Macht. Eine gute Initiative sichert Fortschritt und Vertrauen.
4. Kommunikations- & Stakeholder-Kompetenz
Fallbeispiel: In einem globalen Projekt moderiert der Projektmanager eine Eskalationsrunde mit Stakeholdern aus drei Ländern in unterschiedlichen Zeitzonen. Klare Agenda, aktive Moderation und nachgelagerte Dokumentation verhindern Missverständnisse.
Warum zentral: Eine reibungslose und adressatengerechte Kommunikation ist die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit. Eine klare Abstimmung reduziert Konflikte im Projekt und Unternehmen.
5. Konflikt- und Risikomanagement
Fallbeispiel: Während eines Restrukturierungsprojekts stellt sich heraus, dass ein wichtiger Genehmigungsprozess durch eine Behörde ins Stocken geraten ist. Der Projektmanager analysiert parallel kritische Pfade, passt den Ablaufplan neu an und priorisiert kurzfristig Tätigkeiten, die vorgezogen werden können. Zusätzlich kommuniziert er proaktiv mit dem Auftraggeber, bereitet alternative Szenarien vor und initiiert ein Gespräch mit der Behörde, um Einfluss auf die Entscheidungsgeschwindigkeit zu nehmen. Durch sein vorausschauendes Risikomanagement gelingt es, das Projekt ohne Zeitverlust weiterzuführen.
Warum notwendig: Projekte bleiben nur dann stabil, wenn ein aktives Konflikt- und Risikomanagement vorhanden ist.
6. Selbstreflexion & Weiterentwicklung
Beispiel: Nach Projektabschluss führt der Projektmanager eine offene Retrospektive mit Stakeholdern durch. Er dokumentiert nicht nur Lessons Learned, sondern implementiert sie als Prozessverbesserungen im nächsten Projekt.
Warum wichtig: Wer Fehler erkennt und Prozesse dauerhaft verbessert, sorgt für einen nachhaltigen Erfolg und nicht nur kurzfristige Effekte.
7. Teamverantwortung & Bindung
Fallbeispiel: Ein Projektmanager erkennt, dass ein Teilprojekt ohne klare Rollenbesetzung läuft. Er verteilt die Verantwortung auf die fünf Teammitglieder, integriert Mentoring-Meetings und führt eine positive und sichtbare Einstellung zum Projekt herbei – Motivation und nicht Kontrolle schafft oftmals den Projekterfolg.
Warum entscheidend: Ein Projektmanager führt viel indirekt: durch Vertrauen, Vorbild und Förderung der Eigenverantwortung im Team, da oftmals die disziplinarische Führung nicht vorhanden ist.
Warum Zertifikate dennoch hilfreich sein können (wenn man sie richtig einordnet)
Zertifizierungen sind nicht schlecht – sie sind nur kein Beweis für operative Exzellenz. Sie helfen dabei:
eine gemeinsame Sprache im Projekt zu schaffen,
ein Basiswissen abzusichern,
Motivation und Engagement zu zeigen,
in formalen Auswahlprozessen weiterzukommen.
Aber: Wer nur auf das Zertifikat schaut und nicht auf die Person dahinter, verkennt das Wesen der Projektarbeit.
Tipps für Unternehmen: Worauf ihr bei Projektmanagern wirklich achten solltet
Referenzen statt nur Zertifikate prüfen
Wie viele Projekte wurden geleitet? Wie komplex waren die Projekte? Welche Verantwortung trug die Person wirklich im Projekt?
Fallbeispiele oder Cases im Auswahlprozess einsetzen
So wird klar, wie jemand denkt, priorisiert und kommuniziert. Dies nutzen die großen Unternehmensberatungen, um die Problemlösungskompetenz und das strukturierte Vorgehen der Kandidaten zu prüfen.
Team- und Kommunikationskompetenz erfragen
Wie geht die Person mit Konflikten um? Wie mit verschiedenen Stakeholdern? Mit welcher Art von Stakeholdern hat die Person bereits gearbeitet (bspw. C-Level)?
Lern- und Anpassungsfähigkeit hinterfragen
Wie reflektiert jemand über vergangene Projekte? Welche Schlüsse zieht er oder sie daraus?
Führungspotenzial im Alltag beobachten
Gibt es eine natürliche Autorität? Kann jemand andere begeistern, motivieren, mitnehmen?
Tipps für Projektmanager: So wirst du besser – auch ohne Zertifikat
Lerne kontinuierlich – etwa durch Lessons Learned im Team oder Retrospektiven nach abgeschlossenen Projekten und wichtigen Meetings.
Baue deine Soft Skills aus – z. B. durch Feedbacktrainings, Moderationsübungen oder gezielten Coachings. Beispiel: Nach einem missglückten Kundengespräch erkennt der Projektmanager, dass er in Konfliktsituationen zu defensiv reagiert. Ein Kommunikationstraining hilft ihm, in der nächsten Verhandlung souveräner aufzutreten.
Suche Mentoren – etwa im eigenen Unternehmen oder im externen Netzwerk. Beispiel: Du begleitest bewusst einen erfahrenen Kollegen bei einem komplexen Projekt, um zu lernen, wie man mit Eskalationen umgeht. Dies hat ferner den Vorteil das Unternehmen und die Kultur besser kennenzulernen, wenn Du neu im Unternehmen bist.
Dokumentiere deine Erfolge – nicht nur KPIs, sondern auch Herausforderungen und wie Du sie gemeistert hast. Beispiel: Statt „Projekt erfolgreich umgesetzt“ schreibst Du: „Mit Team von 8 Personen ein zersplittertes IT-System innerhalb von 10 Wochen harmonisiert – trotz komplexem Stakeholder-Management.“
Reflektiere regelmäßig – etwa mit Journaling oder einem Projekt-Tagebuch. Beispiel: Du nutzt jeden Freitag 15-30 Minuten zur Selbstreflexion: Was habe ich diese Woche gelernt? Was hat gut funktioniert? Was hat Energie gekostet? Was kann ich verbessern? Wo habe ich noch Deltas?
Vernetze dich gezielt – z. B. über PM-Communities, Foren oder LinkedIn-Gruppen: Beispielsweise auch in unserer LinkedIn-Gruppe: ChatGPT and AI for Consulting and Project Management.
Fazit: Zertifikate sind nice-to-have. Kompetenz ist must-have.
Zertifikate sehen im Lebenslauf gut aus, bringen aber kein Projekt ins Ziel. Wer denkt, eine Prüfung macht ihn zum Projektmanager, glaubt vermutlich auch, dass ein Erste-Hilfe-Kurs zur Herzchirurgie qualifiziert.
Die Wahrheit: Projekte werden nicht durch Prozesswissen gewonnen, sondern durch Menschen, die führen können, ohne Befehle zu erteilen, und Probleme lösen, bevor sie eskalieren.
Also ja, Zertifikate sind nett. Aber wenn dein Haus brennt, willst du jemanden, der das Feuer mit dir löscht und nicht jemanden, der dir die Brandschutzordnung vorliest.



